Das Waldhaus mit dem Zauberspiegel        eine Geschichte von Manfred Vogt-Hillmann                                   gekürzte Fassung                

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Stell dir vor, du machst dich auf dem Weg zu dir selbst ein paar Schritte an einem sonnigen Tag irgendwo in der Gegend durch eine schöne Landschaft, die Vögel zwitschern, die Sonne scheint, irgendwo zwischen Wiesen, Büschen und Bäumen. Und du bist ganz bei dir in Sicherheit und gehst ein paar Schritte auf einen kleinen Wald zu mit schönen, grünen Bäumen, saftigen Blättern, Vogelgezwitscher, und indem du näher kommst, kannst du vielleicht merken, wie aus dem Schatten des Waldes ein
bisschen Kühle entgegenströmt, und du freust dich schon darauf, aus der grellen Sonne hinaus hinein in den Wald zu gehen, in den kühlen Schatten. Dort, wo die Dinge irgendwie anders aussehen, wo so ein anderes Licht ist, grüne Bäume und Büsche und auch Holz und Büsche mit roten Beeren, und dann gehst du einen Schritt weiter und noch einen Schritt und kommst an eine Weggabelung…


und da sind gar keine Schilder, und du fragst dich vielleicht, wo soll ich jetzt langgehen? Nach links? Oder nach rechts? Und wie du noch überlegst, hast du vielleicht gemerkt,
dass dein Fuss schon die erste Richtung angibt mit einem ersten Schnitt, und du drehst dich und nimmst einen der Wege und weisst eigentlich nicht so recht, warum, du lässt es einfach geschehen und gehst Schritt für Schritt, und du fängst an, dich zu fragen: Weshalb gehe ich eigentlich in diese Richtung? Warum gehe ich nicht den anderen Weg? Was könnte ich auf dem anderen Weg versäumen? Was erwartet mich auf diesem Weg?


Du fühlst dich ganz sicher und kräftig bei dir zu Hause in deinem starken Körper und gehst Schritt für
Schnitt weiter ... du hast dich entschieden, diesen Weg zu gehen, und kommst an eine Lichtung ... dort steht ein ganz seltsames kleines Häuschen ... du wunderst dich darüber, wie in so einem Wald ein Häuschen stehen kann, wer soll das dahin gestellt haben ... und wer hat es gebaut, oder lebt da sogar vielleicht jemand ... deine Schritte werden langsamer und langsamer ... und du stellst dir all diese Fragen. Aber es gibt diesen einen Teil in dir, der so neugierig ist, und er sagt dir, dass du einfach weitergehen kannst, und dir kann nichts passieren ... du bist in deinem sicheren Körper, bei dir zu Hause ... und du gehst auf das Häuschen zu, und du wunderst dich, und du hörst gar nichts, und es sieht auch nicht so aus, als ob da jemand drin wohnt ... das kann doch gar nicht sein, in diesem Wald, dass dort jemand wohnt, so ganz allein ... und du merkst, dass die Tür angelehnt ist, und du lugst ein bisschen hinein, und du fühlst dich ganz sicher, da kann gar nichts sein, machst die Tür auf mit einem leisen Knarren, und in dem Haus siehst du die Sonnenstrahlen, die durchs Fenster reinfallen, und du musst ein bisschen lachen ... es ist dein eigenes gutes altes Haus ... weil, das ist ein gemütliches kleines Haus, wie ein Puppenhaus mit schönen Möbeln drin und ganz gemütlich eingerichtet, und es riecht so lecker nach Kuchen, und du freust dich so, dass dieser Teil, der dich so neugierig sein lässt, da reingeführt hat, und du freust dich so übet deinen Mut, und du freust dich so über deinen Körper, der dir diesen Mut gegeben hat, und du guckst dich ganz gemütlich um, denkst, was für ein schönes kleines Haus, und entdeckst in der einen Ecke neben so einem alten Kleiderschrank einen ganz seltsamen Spiegel mit so einem goldenen dicken Rand drum herum ... und du gehst dahin und guckst in den Spiegel, aber es ist gar kein Spiegelbild darin, was für ein seltsamer Spiegel... du bist ein bisschen überrascht, ein bisschen erschrocken. Ist das vielleicht doch ein besonders Haus, habe ich mich getäuscht? Und du trittst erschrocken einen Schritt zurück, aber du bist ja so neugierig und guckst dir das noch mal genau an, und dann entdeckst du, wie unten an diesem goldenen Rand steht: Das ist ein “Wünsch-dir-was Spiegel“. Und du fragst dich, was soll das heissen? Und du gehst wieder davor und siehst noch nichts. Und du fragst dich, was heisst denn ein “Wünsch-Dir-Was-Spiegel“? Was soll das sein? Kann ich mir was wünschen?


Und da sagst du einfach lachend in den Spiegel hinein: “Ich wünsche mir, mich zu sehen, natürlich.“ Und so was
- da ist plötzlich ein Spiegelbild da von der Katja, wie sie vor dem Spiegel steht ... sie ist schon ein bisschen gewachsen, schon eine richtige kleine Frau, die ihre Lieblingsklamotten anhat, wie immer, wenn sie solche Spaziergänge macht ... und da fällt dir ein, dass du dir ja manchmal wünschst, noch ein bisschen anders auszusehen ….ein bisschen grösser, und sagst dir, jetzt wünsche ich mir mal, wie ich aussehe, wenn ich vielleicht fünf Zentimeter gewachsen bin ... und du guckst in den Spiegel, und das Spiegelbild beginnt, sich ein bisschen zu verändern... es wird ein bisschen grösser, Millimeter für Millimeter, die Hände werden ein bisschen grösser -ein paar Millimeter, ein paar Millimeter an den Beinen, ein paar Millimeter im Becken, ein paar Millimeter im Rücken, ein paar Millimeter im Bauch, in der Brust und in den Schultern und im Kopf ... und dann kannst du das ganz deutlich erkennen ... du bist ein bisschen grösser geworden ... und wie du reinguckst in den Spiegel und das siehst, da siehst du, wie die Kleider in dem Spiegel ein bisschen kürzer geworden sind und kleiner und enger, und dir fällt ein, dass es ja auch neue Kleider gibt, und da wünschst du dir ein paar neue Sachen ... und auf einmal, ganz überraschend, steht da in dem Spiegel eine Katja mit irgendwie einer anderen Hose und anderen Schuhen, Jacke oder Pullover, was auch immer die gerade anhat, oder ein Kleid, irgendwie hat die andere Sachen an ... und du stehst vor dem Spiegel und überlegst, ob das die Sachen sind, die du dir wünschen sollst?! Und wünschst dir einfach deine Lieblingsklamotten eine Nummer grösser und, “schwupp“, ist es geschehen.


Und wie du dich so anschaust, merkst du auf einmal, so wie du dich im Spiegel siehst und dich dir ein bisschen grösser vorstellst, dass diese Grösse auf einmal rausgekommen ist aus dem Spiegel
... du merkst, dass du deine Hosen, die du anhattest, gar nicht mehr umkrempeln brauchst, die haben Hochwasser ... und du stellst dir das vor und bist ganz erstaunt darüber, dass du ein bisschen gewachsen ... während du dir vorstellst, wie du aussiehst, wenn du grösser bist ... und du fängst an, ein bisschen zu überlegen - kann das denn sein, dass ich mir das einfach nur vorstelle, und dann wird das Wirklichkeit?


Das ist eigenartig, du trittst einen Schritt zurück, trittst wieder einen Schritt vor, und die gleiche Katja ist da drin ein bisschen gewachsen, und auf einmal erschrickst du ganz toll, das Spiegelbild spricht mit dir und beruhigt dich und sagt: “Katja, ich bin nur deine Vorstellung, so wie du gerne sein möchtest, und wenn du fest an dich glaubst, dann kannst du das schaffen, und es ist so ähnlich
... wie wenn du jetzt glaubst und dir vorstellst, du würdest eine schöne Portion Pommes frites mit Ketchup essen oder eine leckere Pizza, und da kannst du mal erleben, wie das ist, wenn du dir das vorstellst und lange genug vorstellst, vielleicht noch mit einem Vanilleeis zum Nachtisch, dass du auf einmal in deinem Körper spürst, dass das, was du dir vorstellst, dein Körper merkt, wie dein Körper dir auf einmal Appetit macht auf solche Sachen, so als hättest du richtig ein bisschen Hunger, und die Katja vor dem Spiegel ist ein bisschen irritiert von dieser Idee von ihrem Spiegelbild, aber das Spiegelbild sagt nur: “Du brauchst nur lange genug an dich zu glauben, dann werde ich auch Wirklichkeit genauso wie damals, als du so verzweifelt warst eine Zeit lang, als du dich gefragt hattest, warum ausgerechnet du keine Regel bekommst …

und plötzlich geschieht es, was ganz Seltsames ... nachdem du dein Spiegelbild nun gesehen und gehört hast, fragt es dich, ob du nicht in den Spiegel hereinkommen möchtest... einfach so ... einen Schritt über den Rand und, “schwupp“, bist du im Spiegel, ja du bist in deinem Spiegelbild ... aus dem Spiegel siehst du auf einmal das Zimmer, aus dem du hineingestiegen bist, durch die Tür siehst du dort hinten das Kinderzimmer, mit den alten bekannten Sachen .. und dann merkst du auf einmal, dass all diese Sachen auf einmal ein klein wenig, einen kleinen Tick kleiner sind, als du sie eben noch um dich hattest ... du wunderst dich, und du fragst dich, wie kann das sein ... und wie du darüber nachzudenken beginnst, spürst du den Platz, den du auf einmal hast ... du bist im Körper deines Spiegelbildes und hast plötzlich Platz und streckst dich und atmest tief und merkst jetzt, wie du mit deinem Kopf die Kopfdecke berührst, wie du mit deinen ausgestreckten Armen und Händen die schützenden Grenzen dieses etwas grösser gewachsenen Körpers spüren kannst und wie du dich dabei sicher fühlen kannst. Genauso geht es dir mit deinen Beinen und Füssen, deinem Becken, deinem Bauch, deinem Brustraum, deinem Gesicht überall so wunderbarer, bequemer Platz in einem sicheren Körper, der ein bisschen gewachsen ist, ganz so in deinem Tempo, wie du es dir wünschst. Und wie du so darin verweilst und dich entdeckst, hast du schon gemerkt, wie du dich daran gewöhnst ... die Welt etwas grösser zu erleben. und nach dem Angewöhnen hat es vielleicht auch schon begonnen, ein wenig Spass zu machen, dich etwas grösser, reifer und erwachsener zu fühlen ... ganz in deinem Tempo... und wenn du dies für heute genug ausprobiert, erforscht und genossen hast, verabschiedest du dich aus der Innenwelt des inneren Spiegels und trittst behutsam wieder hinaus in das Zimmer, drehst dich noch einmal herum und bist erneut verwundert ... das Spiegelbild ist weg, der Spiegel ist leer ... es erscheint dir, als hast du es mit hinausgenommen in deine Welt ... und du willst und wirst es in deinem Leben ausserhalb des Hauses ausprobieren und erleben.


Nach diesem sagenhaften Erlebnis bist du immer noch ein wenig verwundert, merkst aber, wie du erst recht den Glauben an dich gewonnen hast
... und das hat den Körper überzeugt, dass du stark bist und mutig, voller Hoffnung und da kannst du ganz fest dran glauben, und die Katja vor dem Spiegel überlegt noch eine Weile - was hat mir da mein Spiegelbild erzählt, das ist ja ganz was Komisches, doch sie kommt ein bisschen in Bewegung, sie denkt noch darüber nach, Pommes frittes, Pizza, Vanilleeis, in dem Moment hat sie die Gedanken an den Spiegel schon fast vergessen, auf einmal kriegt sie sogar richtig ein bisschen Hunger. Sie wendet sich vom Spiegel ab, dreht sich um und geht durch das kleine Häuschen, vorbei an den Möbeln, aus dem Kleiderschrank leuchten schöne Klamotten, vorbei an dem Küchenschrank, wo es so lecker herausriecht.


Sie verlässt das Haus, schliesst die Tür hinter sich und steht wieder an ihrem Ort, geht zurück zur Weggabelung, wo sie auf den anderen Weg neugierig wird, den sie bisher noch nicht kennt…

 

                                                                                                                                                                                                                                                                            zum Geschichtenplatz